8 Tipps von Vivian Maier für Street Photography

Vivian Maier (1926-2009) ist einer der eigenartigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Ihre Bilder inspirieren durch ihre Einfachheit und Schönheit des Alltags. Obwohl wir sie heutzutage neben Diane Arbus, Robert Doisneau oder Helena Levitt einordnen, war sie bis 2009 nahezu unbekannt. Sie machte über 120.000 Bilder und hinterließ zweitausend Rollfilme, die sie in ihrem Leben niemandem gezeigt hat. Wie können wir uns als Straßenfotografen von ihrer Arbeit inspirieren lassen?

Auf den meisten Bildern von Vivian Maier sehen wir den Straßenverkehr von New York und Chicago der 1950er und 1970er Jahren oder Indien, Indonesien, Jemen und Ägypten während Ihrer Auslandsreisen. Der städtische Raum faszinierte sie. Seine Architektur, Menschen aller Größen, Altersgruppen, Nationalitäten und Hautfarben, Betrunkene, Unfälle, Kinderspiele, Polizeipferde und verkohlte Stühle, ihr eigenes Spiegelbild in einer Vitrine oder einem Spiegel, Schatten, Wut, Lachen, Emotionen aller Art. Sie hatte ein Gefühl für den richtigen Moment, in dem alle Ereignisse vor ihren Augen gesammelt und in einem perfekten Bild eingeprägt wurden.

Konzentrieren Sie sich auf Szenen aus dem Alltag

Vivian Maier fotografierte Orte, die sie gut kannte. In ihrer Freizeit und bei Spaziergängen mit ihren Schützlingen – sie arbeitete ihr ganzes Leben als Kindermädchen. Es ist schwer zu sagen, warum sie ihre Bilder nie veröffentlicht hat. Vielleicht wollte sie ihre Anonymität, Privatsphäre und damit ihre Freiheit nicht verlieren, vielleicht hatte sie Angst vor Enttäuschung, vielleicht war es eine der Begleiterscheinungen des Messie-Syndroms, unter dem sie litt – der pathologischen Anhäufung von Dingen, unabhängig von ihrer Nützlichkeit.

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© Vivian Maier. Kochi, Indien, 1959.
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© Vivian Maier. Um sie nicht gleich zu einer Fotoheiligen zu küren, kann man beispielsweise auf diesem Kontaktabzug feststellen, dass sie einigen Szenen mehr als ein Feld gewidmet hat.

Versuchen Sie, Ihre Kamera überall hin mitzunehmen – zur Arbeit, wenn Sie einkaufen gehen, zum Zahnarzt oder spazieren, wenn Sie mit der Straßenbahn oder dem Zug fahren – und beobachten Sie das Leben um sich herum genau. Versuchen Sie es einzufangen. Nicht wie Vivian Maier, sondern wie Sie es wahrnehmen und erleben. Seien Sie mutig und frech, aber nicht unhöflich, seien Sie freundlich, aber nicht sentimental. Wenn Sie Sinn für Humor haben, versuchen Sie ihn in die Fotografie einzubringen.

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© Vivian Maier. New York. Ein ähnliches Motiv könnte man auch bei uns auf dem Stadtplatz aufnehmen.
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© Vivian Maier. Florida, 1960.
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© Vivian Maier. New York, 1954. Auf den richtigen Moment warten können.
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© Vivian Maier. Chicago, 1961. Die Autorin mied nicht einmal die angespanntesten und dadurch privateren Momente im Leben der Großstadt-Bewohner. Im Gegensatz zu Ihnen hat sie ihre Bilder nie veröffentlicht. Seien Sie also rücksichtsvoll, wenn Sie ähnliche Szenen aufnehmen.

Mit einem Wort: Rolleiflex

Vivian Maier besaß zu Lebzeiten mehrere Kameras, aber zum Schicksal wurde Ihr die quadratische Rolleiflex-Spiegelreflexkamera mit zwei Objektiven, mit der sie seit 1952 fotografierte. Für Neugierige: Sie verwendete Rolleiflex 3.5T, Rolleiflex 3.5F, Rolleiflex 2.8C und Rolleiflex Automat.

An ihren Selbstporträts können wir sehen, worin diese quadratische Schachtel genial ist. Erstens –  der Fotograf sieht von oben rein, wo die fotografierte Szene projiziert wird. Er muss es also nicht an sein Gesicht führen und die Hunde erschrecken, die gehorsam auf den Besitzer vor dem Laden warten. Er ist unauffällig und für diejenigen, die keine Erfahrung mit einer ähnlichen Kamera haben, ist er buchstäblich unsichtbar, weil sie eher einer lustigen Geldbörse ähnelt. 

Auf den Fotos ist zu sehen, dass Vivian mit vielen der Porträtierten Augenkontakt hatte, aber anstatt direkt in die Linse zu schauen, richten sie ihre Blicke viel höher und wirken natürlicher. Ähnlich können heutzutage kippbare Displays verwendet werden.

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© Vivian Maier. New York, 1953.
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© Vivian Maier. New York, 1954.

Zweitens: dadurch, dass Sie von oben in die Kamera schauen, fotografieren Sie auf Taillenhöhe, was den Bildern eine außergewöhnliche Perspektive verleiht. Zumindest auf mich wirken die Porträts von Vivian Maier voller Respekt und Ehrfurcht, die jeder Mensch verdient. Gleiches gilt für Kinder, die jeder Erwachsene wegen des Höhenunterschieds ein bisschen von oben herab ansieht. Bei neueren Kameras hilft hier erneut das ausklappbare Display. 

Und drittens: quadratisches Format.

Gehen Sie noch näher heran

Vivian Maier war sicherlich eine furchtlose Frau und hat ihre Ellbogen eingesetzt. Es gibt keinen einzigen verschwendeten Platz in ihren Aufnahmen, jedes Bild ist auch aus kompositorischer Sicht perfekt ausgefüllt, selbst wenn sie sich deswegen einer Person auf Nasenentfernung hätte nähern müssen. Mit einem Teleobjektiv würden wir etwas Vergleichbares nie erreichen, auch wenn der Ausschnitt ähnlich wäre. In ihren Bildern ist die Nähe spürbar, und es ist ihre Geradlinigkeit und Kühnheit, die dem Foto Intimität und Dynamik verleiht und den starken Eindruck vermittelt, dass wir mitten im Geschehen sind. Und wir können nur raten, ob der manchmal zornige oder wütende Ausdruck der Porträtierten in eine Ohrfeige umgewandelt wurde. 

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© Vivian Maier. Chicago. Beachten Sie, dass sie sich dank der Rolleiflex in der Taille wahrscheinlich nicht einmal zum Baby beugen musste, aber wir können ihm trotzdem in die Augen sehen.
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© Vivian Maier. New York, 1953.

Ein Detail nach dem anderen würde bald nicht nur uns langweilen – obwohl es ihr ja egal war, was wir davon hielten – sondern wahrscheinlich auch sie. Vivian Maier konnte die Umgebung meisterhaft in die Aufnahmen einbeziehen, was die Szene immer sinnvoll ergänzt und niemals zwecklos ist.

Was übrigens eine weitere faszinierende Sache an ihrer Arbeit ist – die Bilder, die wir sehen, hat sie exakt beim ersten Versuch aufgenommen. Kein Zuschneiden und andere Anpassungen. Wenn sie ihre Fotos gedruckt hätte,, würde ihr dieser professionelle Ansatz viel Zeit in der Dunkelkammer sparen.

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© Vivian Maier. New York, 1953. Die Autorin arbeitet hier hervorragend mit vertikalen und konvergierenden Linien. Die Straße führt uns durch das Foto bis nach hinten und die vertikalen Wolkenkratzer ziehen uns an die Oberkante.
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© Vivian Maier. Chicago, 1960. Auf diesem Bild haucht uns der Einfluss der amerikanischen Fotografin Diane Arbus wahrscheinlich am meisten an. Auch sie suchte nach verschiedenen menschlichen Unregelmäßigkeiten und Eigenheiten.

Nutzen Sie die Elemente der städtischen Umgebung

Wie ich bereits erwähnte, war Vivian Maier von der städtischen Umgebung fasziniert. Und das nicht nur durch die Menschen, sondern auch von der städtischen Materie selbst – Vitrinen, Spiegel, Fenster und Passagen, Plakate, Pflastersteine, Neonlichter oder Architektur. Auch diese Elemente sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Fotos als Ganzes.

Architektur hat ähnliche Prinzipien wie Fotografie: Architekten verwenden Linien, Kanten, Rahmen und Farben, um ein Objekt zu schaffen, auf das wir unsere Augen richten können. Versuchen Sie als Fotograf davon zu profitieren und unterstützen Sie das Hauptmotiv mit den architektonischen Elementen, die es umgeben. 

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© Vivian Maier. Hier sehen Sie, wie die Reflexion im Schaufenster die äußere und innere Welt verbindet und neue Kontexte schafft.
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© Vivian Maier.

Entdecken Sie die Kraft der Schwarz-Weiß-Konvertierung

Dass Vivian Maier auf Schwarzweißfilme fotografierte war nicht zwangsläufig. Wir kennen ihre Bilder, auch in Farbe – zu denen kommen wir noch. Der Vor- und Nachteil von Farbe in der Fotografie besteht darin, dass Farbe immer zuerst ins Auge fällt und während der gesamten Betrachtungszeit häufig die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Bei Schwarzweiß treten die Grundelemente des Bildes hervor – das Hauptmotiv und die Komposition, Texturen, Linien, Kontrast von Lichtern und Schatten. Vivian Maier konnte all diese Elemente visuell ausbalancieren, was ihre Bilder umso stärker macht. Auch Sie können Ihre Kamera so einstellen, dass die Bilder schon während der Aufnahme in Schwarzweiß angezeigt werden, und Ihren Sinn für Licht üben.

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© Vivian Maier. Das Licht führt Sie wunderschön über das Gesicht der alten Frau.
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© Vivian Maier. Chicago, 1956. Dank der schwarz-weißen Ausführung sticht der dunkel gekleidete Mann auf dem hellen Sandhintergrund hervor. Er kopiert ihn und somit gleicht das Bild das Meer – auch in dunklen Tönen – visuell aus.

Arbeiten Sie mit Umrandung

Einer der grundlegenden Tipps für die Komposition besteht darin, die Hauptszene oder das Hauptmotiv einzurahmen. Vivian Maier liefert auf ihren Fotos inspirierende Beispiele dafür, wie diese Methode angewendet werden kann.

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© Vivian Maier. New York, 1954. Die Autorin verwendete hier nicht nur eine Umrandung, sondern hielt auch einen amüsanten Moment im ansonsten sicherlich actiongeladenen Leben eines Zeitungsverkäufers fest.
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© Vivian Maier. New York, 1955.
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© Vivian Maier. Chicago. Menschen können auch einen Rahmen bilden.

Suchen Sie auch sich selbst in der Umgebung

Neben der Straßenfotografie hat sich Vivian Maier der Selbstporträt in städtischer Umgebung gewidmet. Sie war eine Art Selfie-Freak. Sie zeigte sich in Spiegeln, in den Reflexionen von allem, was glänzte, in Schatten, aber mit Verspieltheit und Kreativität.

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© Vivian Maier. 1961.
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© Vivian Maier. 1965.
8 Tipps von Vivian Maier für Street Photography
© Vivian Maier. 1955. Sehen Sie dieses Lächeln?
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© Vivian Maier. 1950.

Betonen Sie das Hauptmotiv mit einer Kontrastfarbe

Seit 1970 konzentrierte sie sich mehr auf die Farbfotografie. Wenn Sie sich jedoch ihre Bilder ansehen, werden Sie feststellen, dass es hauptsächlich um die Farbe geht. Markantes, kontrastreiches Gelb oder Rot, bei dem die dargestellte Person und die Szene sofort Ihre Aufmerksamkeit erregen und manchmal sogar in den Hintergrund dieses aufmerksamkeitsheischenden Elements treten.

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© Vivian Maier. 1958. Rot und Gelb sind Kontrastfarben, die einfach zusammenpassen.
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© Vivian Maier. Chicago, 1975. Es gibt Tage, an denen es einfach passiert.

Ein paar gesprächige Worte zum Abschluß

Sie haben gerade eine Frau kennengelernt, die nach ihrem Tod die Geschichte neu geschrieben hat. Obwohl es Kontroversen darüber gab, ob Vivian Maier in die Geschichte der Fotografie des 20. Jahrhunderts aufgenommen werden sollte oder nicht, da sie keinen Einfluss auf ihre Entwicklung hatte, ist ihr Beitrag für die heutigen Fotografen unbestreitbar. 

Wenn Sie voll und ganz in ihre Arbeit eintauchen möchten und überlegen, ein Buch zu kaufen, empfehle ich, es sich vorher anzusehen. Einige haben eine schlechte Druckqualität, was schade ist. Dank ihres Entdeckers und Sammlers John Maloof ist ihre gesamte Arbeit online verfügbar.

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© Vivian Maier. New York.

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AutorEster Dobiášová

Ich bewundere (nicht nur) Dokumentarfotografen und versuche in meiner eigenen Arbeit Serien zu erstellen, die durch einen lesbaren Gedanken verbunden sind, aber Raum für eigene Fantasie und Geschichten lassen. Ich mache auch Reportage- und Reisefotografie und leite seit drei Jahren Fotokurse für Teenager. Meine Arbeit können Sie sich auf meiner Website ansehen.

Kommentare (1)

  1. Tolle Geschichte, wunderschöne Fotos, lehrreiche Beschreibungen. Sehr gelungener Artikel.
    Werde ihn in der Gruppe s/w Fotografie in FB teilen.

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